Poetry Slam poppt und goethet nicht

Irgendwann letzte Woche, zerspratzelte mein Internet bzw. insbesondere Facebook in einer Explosion die aussah wie Julia Engelmann. Wer ist Julia Engelmann, und warum ist euer Internet nicht explodiert, fragen nun vermutlich diejenigen unter euch, die Facebook nicht nutzen?

Nun, Julia Engelmann hat im Frühling 2013 am Poetry Slam der Uni Bielefeld teilgenommen. Dort hat sie einen Text aufgesagt, der nun plötzlich unfassbare Aufmerksamkeit hervorrief, weil irgendein Social-Media-Multiplikator-Mensch mit verflucht vielen Followern ihn gesehen und geteilt hat. Ich glaube jeder meiner zahlreichen deutschsprachigen FB-Bekanntschaften hat dieses Video gepostet, geteilt und kommentiert – und zwar durchweg positiv kommentiert. All ihr da „draußen“ – bildlich zu verstehen – die nicht in diesem Facebook sind, hier ist mal das Video, von dem ihr vielleicht noch nichts gelesen/gehört habt:

So, nun könnt ihr euch auch selber ein Bild machen. Ich finde, es handelt sich um einen sehr schönen Text, der mit einem Liedtext einleitet und sich  sehr schön poppig aufstellt – inhaltlich. Das beziehe ich jetzt mal auf die Message und auch die Tiefe des Textes. Mir ging der Text irgendwie nah und hat mich zum Denken angeregt, ob ich das Gefühl habe, ich verpasse mit meinem Lebensstil etwas, ob ich lockerer werden sollte ob das Konzept, wie wir unser Leben leben, so richtig ist oder ob ich nicht auch für mehr Kreativität, Ausleben, Verrücktheit usw. plädieren sollte (ohne es selber umsetzen zu wollen). Ich habe sogar nachgedacht, warum ich so bin, wie ich bin. Gut… mach ich alles öfter, aber nun hatte es einen konkreten Anlass. So wie böllern an Silvester! Aber genug von mir…

Wie gesagt, waren die ersten Reaktionen positiv – dann irgendwann kamen vorhersehbar die Nörgler. Irgendwas müssen die, denen Wetten-Dass nicht philosophisch genug ist (Moderatotion mal beiseite) ja auch tun, wenn gerade nicht gewettet wird. Und diese Nörgler fanden den Text viel zu seicht, einfach, tumb und überhaupt ist Julia Schauspielerin (!!! achso.. nennt man die Darsteller von „Unter uns“ jetzt kontextsensitiv – wenn es in die Argumentation passt – doch Schauspieler!?) und das alles sei von ihr durchchoreographiert. Bei einer Poetry-Slammerin (ich finde gerade den Link nicht mehr) mischte sich zudem noch eine unverschämte Menge Neid in ihren Blogeintrag, denn schließlich versuche sie seit Jahren, mit ihren Texten die Massen vergeblich zu begeistern.

Und ab hier kotzte mich die ganze Geschichte nur noch an. Ich möchte das aber mal auseinanderfriemeln.

  1. Schauspielerin, durchchoreographiert: Ja, ich fürchte, diesen „Vorwurf“ kann man ihr machen. Wenn das denn wirklich zutrifft, dann ist sie tatsächlich eine tolle Schauspielerin, zumindest hat sie sich dann nachhaltig für die Rolle des schüchternen Mädchens empfohlen. Vor allem aber zählt doch, dass es sich hier um einen Poerty-Slam Wettbewerb handelt und wenn man auf der Bühne steht, performt man doch immer. Jeder der Vorleser dort, choreographiert doch seinen text mit Gesten usw. ich verstehe diesen Vorwurf nicht. Und wie sie ihren text vorgeretagen hat, passte perfekt!
  2. Der Text ist zu einfach, zu seicht: Muss es denn immer Hochkultur sein? Jaja, wir sind ein Volk der Dichter und Denker und alles was nicht Mozart ist ist schlechte Musik und unser Fernsehprogramm ist immer Mist und verdummt. Humbug! Wir sollten einfach mal ein bisschen lockerer werden. Der Text von Julia Engelmann ist Folklore, er spricht vielen Menschen aus dem Herzen, denn jeder kann und ist intelektuell in der Lage seine ganz eigene Lebensart, seine Versäumnisse und seine Wünsche in ihn hineininterpretieren. Der ein oder andere wird sagen, dass die darin geäusserten Lebenskonzepte naiv sind, aber so versteht sie doch eben jeder. Man betrachte ihn als Denkanstoß! Und das ist ja alles auch nur konsequent, denn der Text beginnt mit einem Pop-Liedtext und will auch schon daher gar nicht viel mehr sein, als ein Pop-Poetry-Text (unterstelle ich). Himmel-Herr-Gott, sie bezieht sich im Text selber sogar auf Pop-Sängerinnen. Hätte sie es sich hochkulturiger gewünscht, hätte sie vielleicht mit dem (unfassbar beschissenen) Erlkönig begonnen.
  3. Neid: Ein Kumpel von mir hat mal gesagt, das Eric Clapton gar kein wirklich herausragender Gitarrenspieler ist, sondern eher so Durchschnitt. Lassen wir das mal so dahingestellt und behaupten dass das so stimmt. Aber nun, frage ich, wie egal das eigentlich ist. Denn er macht Musik, die Millionen Menschen gefällt. Vielleicht gibt es Milliarden Gitarristen, die besser sind als Clapton, aber anscheinend treffen die den richtigen Ton nicht. Die dürfen sich nun gerne alle beschweren, oder mal überlegen, ob sie mit ihrer Art Gitarre zu spielen, nicht vielleicht ein anderes Publikum erreichen, dass ihnen vielleicht dann auch wichtiger ist – sonst sollen sie halt anders Gitarre spielen… schlechter, wenn es denn hilft.

Ich möchte dafür plädieren, ab und an auch einfach mal Sachen scheisse finden zu können. Das kann man – wenn man gefragt wird – dann auch mal kundtun. Aber niemand zwingt einen gründe anzubringen. Manchmal fühlt sich etwas einfach falsch/mistig/blöd an und dann ist das eben so. Da muss es keine Gründe für geben, man muss vor allem nicht zwanghaft nach welchen suchen, die bei vergleichender Prüfung eh keine 3 Minuten stand halten.

Den Wettbewerb gewonnen hat übrigens Jan Philipp Zymny mit einem hervorragend lustigen Text (kann ich jedem empfehlen) – auch choreographiert. Ich bin durch Julia Engelmann auf ihn und auf die Poetry-Slam-Szene aufmerksam(er) geworden und werde vielleicht mal versuchen Annika zu einem Besuch bei einem Poetry Slam zu bewegen – das ist auch Julias Schuld. Das darf man ihr auch mal zu Gute halten, statt über Choreographie, mangelnde Authentizität und Einfachheit zu schwadronieren. Sie darf durchaus einfach mal in den Medien gefeiert werden (wenn es denn sein muss) – so wie Lady Gaga, Rihanna, Robbie Williams usw.